Die meisten ausländischen Unternehmen wollen Russland nicht verlassen und versuchen, ihre Beziehungen zu russischen Partnern aufrechtzuerhalten. Unter diesen Umständen sollte man auf die jahrelang aufgebaute Zusammenarbeit nicht verzichtet. Darüber sprach Sergey Katyrin, Präsident der russischen Handels- und Industriekammer der Russischen Föderation (HIK Russland), in einem Interview der russischen Tageszeitung Rossijskaja Gaseta.
Wie stark spürt man den Rückzug einiger internationaler Unternehmen vom russischen Markt? Verlassen sie Russland für immer? Und wie steht es um die Handelsbeziehungen mit dem Westen? Werden diese Bindungen für immer gekappt?
An der Stelle ist es wichtig zu verstehen, dass wir mit dem Westen lange nachhaltige Beziehungen haben, die in den letzten Jahrzehnten besonders verstärkt ausgebaut wurden. Es wäre falsch und nicht zukunftsgerichtet zu behaupten, das war’s, aber morgen hätten wir keine Interessen mehr im Westen. Es ist notwendig, die Beziehungen an allen möglichen Stellen aufrechtzuerhalten.
Zweifelsohne wird es nicht mit allen Partnern möglich sein und diese Sanktionen werden noch lange Zeit — wenn nicht für immer – bestehen bleiben. Ich glaube jedoch, dass die Länder irgendwie anfangen etwas zu kaufen oder zu verkaufen und so weiter.
Außerdem gibt noch die ausländischen Unternehmen, die große Summen in Russland investiert haben und diese nicht verlieren wollen. Nun sind einige von ihnen gezwungen, Russland zu verlassen, den Handel und die Produktion einzuschränken und sich auf den russischen Märkten bescheidener zu geben. Derartige Entscheidungen werden jedoch unter starkem Druck getroffen, vor allem seitens der Regierung und der öffentlichen Meinung dieser Länder. In den allermeisten Fällen wollen die ausländischen Unternehmen Russland nicht verlassen. Dafür sprechen die Ergebnisse aus unseren zahlreichen Treffen mit Unternehmerverbänden aus dem Ausland — aus Deutschland, den USA, Frankreich, Japan.
Trotzdem hoffen viele von ihnen, dass sie in der Zukunft zurückkommen und auf unserem Markt weiterarbeiten werden. Somit werden diejenigen bleiben, die mit Russland zusammenarbeiten sowie hierzulande Geschäfte machen und bewahren oder später zurückkommen wollen. Daher ist es notwendig, die Beziehungen zu denjenigen zu pflegen, mit denen wir zusammengearbeitet haben. Zumindest wir in der russischen Handels- und Industriekammer versuchen, die Beziehungen zu unseren Partnern zu bewahren und unseren Kollegen zu vermitteln, dass jeder Streit in Frieden endet. Und früher oder später werden wir Brücken aufbauen müssen und deshalb ist es besser, sie gerade jetzt nicht zu zerstören.
Ist es unter diesen Umständen überhaupt angebracht, von Russlands Schwenk nach Asien zu sprechen?
Ich würde es nur bedingt als Kehrtwende bezeichnen, denn wir schon vorher auf diesen Richtungen gearbeitet haben und es auch heute weiterhin tun. Dennoch haben wir selbstverständlich aufgrund der Umstände begonnen, dem ganzen mehr Aufmerksamkeit zu widmen.
Ich würde nicht sagen, dass wir am Anfang unsere ganze Aufmerksamkeit auf den Westen gerichtet haben und jetzt ausschließlich Asien oder den Süden vor Augen haben sollten. Ich bin der Meinung, dass sich unsere außenwirtschaftliche Zusammenarbeit in verschiedene Richtungen entwickeln sollte. Und um nicht in die gleiche Falle zu tappen, in der wir uns jetzt mit den westlichen Ländern befinden, als wir uns nur die verlassen haben, sollten wir jetzt nicht alle Fragestellungen ausschließlich in Asien lösen. Wir müssen uns hinsichtlich des Außenhandels Richtung Süden, Asien, Lateinamerika und auf den afrikanischen Kontinent hinbewegen.
Wie schätzen Sie das Tempo der Importsubstitution in Russland ein?
Im Großen und Ganzen gab und gibt es bei uns noch keine Warenknappheit. Ich glaube nicht, dass es zu einer Verknappung von Waren, insbesondere von Lebensmitteln, kommen wird. Unsere westlichen Partner werden durch diejenigen ersetzt, die aus dem Süden und Asien her für uns arbeiten. Außerdem haben wir in diesem Bereich größtenteils auch unsere eigenen Produkte. Auch bei unseren anderen Konsumgütern sehe ich für die nahe Zukunft keine ernsthaften Probleme.
Bei den Industrieprodukten, den Komponenten und Ersatzteilen für Maschinen, gehen die Substitutionsprozesse nicht so schnell voran, wie wir es uns wünschen würden. Aber es ist ganz natürlich. Abgesehen von den Sanktionen und den Verkaufsverboten für diese Produkte haben wir es mit einer Unterbrechung der Logistikketten zu tun, und es ist schwierig, eine neue Logistik aufzubauen.
Der Containerverkehr ist faktisch zum Erliegen gekommen, und der Seeverkehr wurde für uns praktisch gesperrt. In diesem Bereich gibt es tatsächlich Schwierigkeiten. Langsam bauen sich neue logistische Systeme, Liefermöglichkeiten über Land und auf anderen Wegen auf. Es wird einige Zeit dauern, bis diese Probleme gelöst sind.
Trifft das auch für die Problematik eines überstarken Rubels zu? Wird nach Ihrer Einschätzung die Nationalwährung noch stärker?
Die größte Auswirkung zeigt diese Situation auf unsere Exporteure. Wir arbeiten größtenteils mit Rohstoffprodukten, und selbstverständlich ist es für einen Exporteur wichtig, dass der Rubel nicht so stark ist. Für Importeure ist das das wiederum normal. Was man gestern für hundert Rubel kaufen konnte, wenn ich einen Dollar hatte, kann man heute für 60 Rubel kaufen. Das ist eine Vergünstigung.
Das Hauptproblem bei den Einfuhren besteht in einer vergleichsweise hohen Konsumentennachfrage. Wenn wir diese beibehalten wollen, dann ist es wichtig, dass die Importe günstig sind. Aber da die Importe ebenfalls sinken und wir uns mehr auf den russischen Markt konzentrieren, ist das nicht die Hauptsache. Die Stärkung des Rubels ist ein größeres Problem als seine Schwächung.
Ich glaube, dass die Bank Rosii (Russische Zentralbank) und die Regierung in dieser Frage Maßnahmen ergreifen werden, um den Wechselkurs des Rubels ausgeglichener zu gestalten. Ich glaube, dass er sich wieder erholen wird und der Wert letztendlich absinken wird: Er könnte zu den vertrauten 70 Rubel pro Dollar zurückkommen, die wir hatten, vielleicht sogar etwas weniger.