Viele Bereiche der russischen Wirtschaft befinden sich aufgrund der Sanktionen und der veränderten Lieferketten in einem tektonischen Wandel. Sergey Katyrin, Präsident der russischen Handels- und Industriekammer, erklärte in einem Interview der russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti am Vorabend des Internationalen Wirtschaftsforums SPIEF-2022 in St. Petersburg, warum ein Register inländischer Unternehmen notwendig ist, ob der Westen Russland von Parallelimporten abschneiden kann und warum die Frage der Treuhändler für ausländische Unternehmen, die ihren Rückzug vom russischen Markt angekündigt haben, mit größter Vorsicht angegangen werden sollte.
Sergej Nikolajewitsch, der Sanktionsdruck auf die russische Wirtschaft wächst, die Weltwirtschaft steht am Rande einer Stagnation. Wie ist die Stimmung der Unternehmen in dieser Lage, jetzt kurz vor dem Start des SPIEF-2022?
Natürlich beeinträchtigt die Verschärfung der Beziehungen zwischen Russland und des Westens die allgemeine Atmosphäre der Veranstaltung, dennoch haben mehr als 90 Länder ihre Teilnahme am SPIEF bestätigt. Dies ist ein Beweis dafür, dass das Forum in den 25 Jahren zu einem der bedeutendsten Wirtschaftsereignisse geworden ist und nach wie vor die führende Plattform für Treffen mit Unternehmensvertretern und für Gespräche über die wichtigsten wirtschaftlichen Fragestellungen, die auf der Tagesordnung sowohl unseres Landes als auch der ganzen Welt stehen.
Die restriktiven Maßnahmen gegen unser Land haben eine ganze Reihe von Problemen ausgelöst: die Unterbrechungen in Logistik- und Geschäftsketten, die Schwierigkeiten bei Zahlungsausgleich, die veränderten Finanzierungskosten und vieles mehr. All das ist nun die neue Realität, in der wir uns bewegen müssen.
Welche Probleme sind besonders akut?
Viele Unternehmen sind heutzutage besorgt über das Risiko ernsthafter Lieferengpässe, wenn Waren, Ersatzteile und Komponente ausgehen. Sie müssen die Verluste ausgleichen, schnell einen Ersatz finden und vor allem die Produktion möglichst wieder in Gang bringen. Und dann ist da noch die hochmoderne Hightech-Ausrüstung, die ebenfalls kein geringes Problem darstellt. Es ist mehr als die Tatsache, dass die Produktion wegen des Engpasses eines einzigen Bauteils plötzlich eingestellt werden kann. In jedem Moment kann auch selbst die Arbeit der Software unterbrochen werden.
Es ist daher nicht überraschend, dass wir mehrere Vorschläge bekommen haben, eine Art Bedarfsregister für alle Wirtschaftszweige zu erstellen, damit die Unternehmen wissen und überblicken, was genau produziert werden muss, so dass ein fehlendes Bauteil nicht den Betrieb eines großen produzierenden Unternehmens, beispielsweise eines Maschinenbauers beeinträchtigt. Die Behörden haben bereits viele wichtige Entscheidungen zur Unterstützung der Wirtschaft getroffen. Weitere sind auf dem Weg und auf der Gesetzesebene sollten alle Nuancen der sich verändernden Situation umgehend berücksichtigt werden.
Ein weiteres bedeutendes Problem sind die teuren Kredite, die fehlenden Mittel für technische Umrüstung, ohne die all die neu aufgekommenen Lücken in der Importsubstitution einfach nicht gefüllt werden können.
Aktuell wird die Logistik — oder besser gesagt ihre Unterbrechung — als das Problem schlechthin bezeichnet. Schließlich sind durch die Sanktionen viele Transportketten für die Lieferung von Waren, Ersatzteilen, Bauteilen unterbrochen worden.
Das stimmt. In der Handelskammer sind verschiedene Unternehmen, von kleinen und mittleren Betrieben bis hin zu Konzernen, Industrie- und Finanzgruppen vereint. In den Anfragen, die wir in den letzten drei Monaten erhalten haben, können wir erkennen, dass die Umstellung der Logistik ein großes Problem darstellt. Beispielsweise steht die Metallurgie heutzutage vor einem gravierenden Wandel. Nach dem Exportverbot in die EU mussten sie sich Richtung Osten umorientieren. Dies wird einen mehrfachen Anstieg der Zusatzkosten, einschließlich höherer Frachtkosten, eine rasche Entwicklung der Exportlogistik und der Infrastruktur nach sich ziehen.
Die logistischen Schwierigkeiten haben sich auch auf die Lebensmittelindustrie ausgewirkt. Der nationale Verband der Milcherzeuger (Soyuzmoloko) und der Verband der Saft-, Wasser- und Getränkehersteller (Soyuznapitki) mussten feststellen, dass die Branche Probleme bei der Lieferung neuer Anlagen, Rohstoffe und Verpackungsmaterialien hat, was zu einer Verringerung des Sortiments führen kann.
Auch die Fischereibetrieben haben mit Schwierigkeiten zu kämpfen, weil die Logistik nicht mehr funktioniert. Der Verband der Alaska-Seelachs-Hersteller hat bereits vor Schwierigkeiten bei der Substitution durch importierten Lachs und Thunfisch gewarnt. Der Verband der nordischen Fischereien berichtete, dass die russischen Krabbenfischer ihre Schwierigkeiten haben, tiefgefrorene Krabben in die Vereinigten Staaten zu verkaufen.
Die Unternehmen Renault und McDonald’s haben vor kurzem ihre Vermögensanteile in Russland verkauft. Wird dies nun zu einem Trend unter den 750 ausländischen Unternehmen, die nach dem 24. Februar ihre Tätigkeit hierzulande bereits eingestellt haben?
Ich würde das ungern so beschreiben, dass es zu einem Trend wird. Die meisten haben bisher nur eine Aussetzung der Geschäftstätigkeit angekündigt, was hauptsächlich auf die erwähnten logistischen Schwierigkeiten zurückzuführen ist. Es ist jedoch wichtig, dass die Unternehmen sozial verantwortlich bleiben, den russischen Arbeitnehmern weiterhin Gehälter zahlen und andere Verpflichtungen erfüllen. Aber in diesem Fall hängt die Entscheidung, wie wir alle wissen, weitgehend nicht von uns ab, und auch nicht von der Unternehmensleitung, da diese in hohem Maße von ausländischen Regulierungsbehörden, Politikern und der Öffentlichkeit beeinflusst wird.
Wird heute eine „Aufklärungsarbeit“ gegenüber den westlichen Unternehmen geführt? Versucht man eine gemeinsame Sprache zu finden und die Firmen zum Bleiben zu überreden? Oder sind sie sich selbst überlassen?
Das Ministerium für Industrie und Handel arbeitet sehr eng mit den westlichen Investoren zusammen und wir arbeiten intensiv mit jedem von ihnen zusammen, denn sie sind große Arbeitgeber und haben viele lokale Zulieferer, kleine und mittlere Unternehmen, die an sie gebunden sind. Wir von unserer Seite unterhalten enge Kontakte zu ausländischen Wirtschaftsverbänden, die in unserem Land tätig sind. Ich möchte darauf hinweisen, dass die meisten ausländischen Unternehmen daran interessiert sind, weiterhin in Russland tätig zu sein, dass sie aber sicherstellen möchten, dass die Risiken für ihre Tätigkeit verringert werden. In diesem Zusammenhang sind sie besorgt über eine Reihe von Gesetzesentwürfen, die in der Staatsduma diskutiert werden. Aktuell liegt dort ein Gesetzentwurf zur Treuhandregelung für die ausländischen Firmen vor, die ihren Rückzug vom russischen Markt angekündigt haben. Aus unserer Sicht soll ein derartiges Instrument mit äußerster Vorsicht eingesetzt werden. Gleichzeitig können die Behörden die momentane Situation nicht ohne eine Reaktion lassen, wenn tausende russische Bürger in Kurzarbeit geschickt wurden. Unsere ausländischen Kollegen haben uns ihre Kommentare und Vorschläge übermittelt, die wir berücksichtigt haben. Die aktualisierten gemeinsamen Vorschläge wurden an die Staatsduma und die Regierung gereicht.
Was passiert gerade auf dem russischen Arbeitsmarkt?
Trotz der schwierigen Wirtschaftslage wäre es noch zu früh von dramatischen Veränderungen zu sprechen. Die führenden russischen Online-Headhunter-Plattformen haben bisher keine signifikanten Schwankungen in den Rekrutierungsstrategien russischer Unternehmen festgestellt.
Nach Angaben des Föderalen Steuerdienstes waren beispielsweise zum Stand des 10.Mai fast 14,6 Millionen Menschen in den KMU beschäftigt. Das sind 5,3 Prozent weniger als im Vorjahr. Gleichzeitig hat die Zahl der Selbstständigen in letzter Zeit deutlich zugenommen und erreichte Ende April fast 4,8 Millionen. Im Vorjahr war diese Zahl um 50 Prozent niedriger, nämlich 2,3 Millionen Menschen.
Was halten Sie von den so genannten Parallelimporten, die die Regierung vor nicht allzu langer Zeit legalisiert hat? Werden sie es ermöglichen, den einheimischen Markt mit Originalware zu füllen und die Verkaufspreise zu senken?
Man muss dazu sagen, dass die Parallelimporte keine Legalisierung von Produktfälschungen bedeuten. Es geht dabei um die Einfuhr von Originalprodukten über die alternativen Kanäle. Ich möchte Sie daran erinnern, dass die Diskussion über die Legalisierung von Parallelimporten seit mehr als 10 Jahren geführt wird, und dass seinerzeit verschiedene Pilotprojekte vorgeschlagen wurden, insbesondere für Arzneimittel und Autoersatzteile.
Die Frage der Parallelimporte ist nach der Einführung von Sanktionen sowie nach den angekündigten Rückzügen beziehungsweise Geschäftsunterbrechungen seitens der ausländischen Unternehmen, aus nachvollziehbaren Gründen wieder an Aktualität gewonnen hat. In dieser Situation fragten sich viele einheimische Firmen, die nun auf Parallelimporte angewiesen wurden, woher sie ihre Waren beziehen könnten und mit welchen Partnern sie hierbei zusammenarbeiten sollten. Als ein entsprechender regulativer Mechanismus offiziell eingeführt wurde, haben sie sofort angefangen ihn zu nutzen, wobei sie die gesamte neu aufzustellende Logistik berücksichtigen müssen. Mit der Zeit wird das immer aktiver genutzt.
Die vom Ministerium für Industrie und Handel genehmigte Liste der für Parallelimporte zugelassenen Waren umfasst derzeit über 50 Artikel. Es ist wichtig, dass sie damit nicht eine finale Fassung hat. Die Vertreter des Ministeriums haben wiederholt darauf hingewiesen, dass diese Liste je nach Situation ergänzt werden kann.
Die Etablierung neuer Versorgungssysteme mithilfe legalisierter Parallelimporten wird sicherlich dazu beitragen, das Risiko von Engpässen und Preissteigerungen zu verringern. Es lässt sich nicht leugnen, dass es aufgrund einer komplexen Logistik und Beschaffungssysteme zu einem gewissen Preisanstieg kommen kann, aber dieser kann durch den Wettbewerb zwischen den Lieferanten und den Wegfall überhöhter Preisaufschläge der offiziellen Vertriebshändler, von denen viele ihre privilegierte Stellung ausgenutzt haben, ausgeglichen werden.
Wir reden hier gerade nahezu optimistisch über die Parallelimporte. Aber kann der Westen es nicht doch noch verhindern, dass diese Originalprodukte nach Russland eingeführt werden?
Angesichts der Geschwindigkeit, mit der Sanktionen gegen unser Land verhängt werden, ist alles möglich. Was bestimmte technisch aufwendige und teure Güter betrifft wie zum Beispiel Atomreaktoren, Eisenbahnlokomotive, Schiffe usw., so können wir die Versuche nicht ausschließen, zusätzliche Restriktionen einzuführen. Ich glaube dennoch, dass die Wirtschaft mit staatlicher Unterstützung einen Ausweg finden kann.
Eine wichtige Rolle bei der Ausweitung des Parallelimportmechanismus spielt ein Gesetzentwurf, der die russischen Firmen, die Waren ohne Genehmigung des Rechteinhabers importieren, gegen eine mögliche zivil-, verwaltungs- und strafrechtliche Haftung absichern soll.
Der Originaltext ist auf Russisch am 14.06.2022 bei RIA Novosti erschienen.
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