Auszüge aus dem Interview des Präsidenten der russischen Handels- und Industriekammer dem Föderalen Nachrichtendienst.
Herr Katyrin, haben die Sanktionen gegen Russland entgegen den Erwartungen der Initiatoren die Wirtschaft angestoßen, etwas zu tun?
Katyrin: Die westlichen Sanktionen haben die Wirtschaft nicht nur angestoßen, sondern auch einen nicht unbedeutenden Schaden angerichtet – allerdings in gleicher Weise wie die russischen Gegensanktionen dem Westen geschadet haben. Das sollte nicht vergessen werden. Ohne diese Situation hätten wir uns deutlich mehr nach vorne bewegt. Dennoch hat sich die Stimmung in der Elite und unter den Wirtschaftsvertretern unter dem Sanktionsdruck, der seit 2014 aufgebaut wurde, deutlich verändert. Sie haben verstanden, dass man sich in erster Linie auf die eigenen Kräfte verlassen sowie Technologien und eigene Produktionen entwickeln muss. Die Einschränkungen des Westens haben die Importsubstitution stimuliert und uns dazu gezwungen, nach neuen Lösungen und Geschäftspartnern zu suchen – also geschäftlich aktiver zu werden. In diesem Sinne haben sie schon positive Veränderungen in der Wirtschaft angestoßen, obwohl diese aktuell noch ziemlich bescheiden sind.
Was hat die Regierung konkret getan, um die Wirtschaft zu entwickeln?
Katyrin: Ja, internationale Ratings zeigen, dass sich die russische Wirtschaft auch positiv verändert. Der Staat hat einiges getan, um die Geschäftsbedingungen zu verbessern. Das zeigt sich dann in Ratings wie dem Ease of Doing Business der Weltbank: 2019 hat Russland den 31. Platz belegt und verbesserte sich damit um vier Positionen im Vergleich zum Vorjahr. Die bürokratischen Hürden sinken, das Geschäftsklima verbessert sich, die Wirtschaftskorruption sinkt, wenngleich nicht so schnell wie man sich das wünscht. Die Wirtschaft ist in unserem Land aktuell noch nicht auf dem gewünschten Stand. Das Unternehmertum muss sich aktiver entwickeln. In Russland gibt es aktuell etwa 18 Millionen Unternehmer, das sind zirka 20 Prozent der gesamten arbeitenden Bevölkerung. In führenden westlichen Wirtschaftsnationen liegt dieser Wert bei 50 bis 70 Prozent.
Kann die Digitalisierung einen Teil dazu beitragen, die Wirtschaft schneller zu entwickeln?
Katyrin: Die Wirtschaft und der Handel kommen heute nicht mehr um das Thema Digitalisierung herum. Das verstehen sowohl der Staat als auch die Unternehmen. Auch in Russland verändert sich das Wirtschaftsmodell: Wir fokussieren uns immer stärker auf ressourcenunabhängige Industriezweige. Das ist zwar ein absolut richtiger Weg, gelingen kann dieser Wandel aber nur mit der Entwicklung und Implementierung neuer Technologien. Die Wirtschaft muss digitalisiert und die Geschwindigkeit der Datenübertragung und der Entscheidungsfindung geändert werden.
Die Digitalisierung – und zwar in allen Bereichen – ist unausweichlich. Die russische Handels- und Industriekammer schenkt diesem Thema viel Aufmerksamkeit. Die Unternehmen aus den Regionen wenden sich an uns, weil sie an der digitalen Transformation interessiert sind. Gleichzeitig haben sie nur wenig Wissen darüber, wie die Mechanismen sind und die Umsetzung stattfinden soll. Unsere aktuelle Aufgabe ist es deshalb, Unternehmen, in erster Linie kleinere und mittlere, bei der Definition eines digitalen Betriebes zu unterstützen: Ist mein Betrieb digitalisiert? Und wenn nicht: Wie und wozu soll er digitalisiert werden und wie hoch sind die Kosten dafür?
Sie sprechen von KMU. Zwar tut Russland etwas, um diese zu entwickeln, das gelingt bisher aber noch nicht ganz. Was tut die Handelskammer dafür?
Katyrin: Wir setzen uns aktiv für die Förderung des Familienunternehmertums ein. Aktuell gibt es in diesem Bereich de facto keine gesetzliche Basis. Es ist nicht gerade einfach, hierfür Unterstützung zu bekommen. Dabei ist sie dringend notwendig, etwa in Form von Präferenzen und Subventionen. Wir sind der Meinung, dass ein so genanntes Familienpatent eingeführt werden sollte. Es soll als einmalig erworbene Erlaubnis die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse unter den Mitgliedern in den familiengeführten Unternehmen vereinfachen. Darin sehen wir eine starke Unterstützung für solche Unternehmen und somit für die ganze Wirtschaft.
Trotz der Sanktionen: Welche Rolle spielen internationale Partner für die russische Wirtschaft?
Katyrin: Digitalisierung, Hochtechnologien oder Green Economy sind aktuelle Themen, die die internationale Unternehmensgemeinschaft vereinen. Wir suchen ständig nach neuen Geschäftspartnern und Lösungen. Die russische Handelskammer fördert solche Initiativen, darunter forcieren wir etwa eine stärkere Zusammenarbeit mit der Asien-Pazifik-Region. Für die internationale Zusammenarbeit haben wir 75 Wirtschaftsräte geschaffen – die Repräsentanzen der Handelskammer im Ausland. 33 Vertreter arbeiten in 38 Ländern weltweit auf eine internationale Wirtschaftszusammenarbeit hin. Wir vertreten die Interessen russischer Firmen auf internationalen Märkten, werben für sie und um Investitionen. Das fällt heute vor dem Hintergrund der Sanktionen nicht leicht. Im kommenden Jahr werden wir uns um die Austragung des Weltkongresses der Internationalen Handelskammer (International Chamber of Commerce) im Jahr 2023 bewerben. Sollte Russland den Zuschlag bekommen, wird dieses große Format zum ersten Mal in unserem Land durchgeführt. Für uns ist es eine Herausforderung und gleichzeitig eine Chance, unsere praktische Expertise im internationalen Vergleich zu sehen.